«FALL BICHSEL»: VOM SKANDAL ZUR GESCHICHTE EINER HOCKEY-VERSöHNUNG

Lian Bichsel (19) ist bis zur WM 2026 aus der Nationalmannschaft ausgeschlossen worden. Wir dürfen bereits im Sommer mit einer Begnadigung rechnen.

Eigentlich möchte Stefan Schärer (59) Ruhe und Harmonie. Probleme in aller Ruhe analysieren. Möglichst an runden und nicht an eckigen Tischen. Er ist eine charismatische Persönlichkeit und kommt aus dem Handball. Einer Sportkultur, der im medialen Windschatten diese Ruhe und Harmonie sozusagen «en famille» vergönnt ist.

Seit letztem Herbst ist Stefan Schärer Präsident des Hockey-Verbandes. Einer Sportkultur, die mal mit und mal gegen heftige mediale Winde segelt. Ruhe und Harmonie sind erst recht seine Herzenswünsche im Hinblick auf die WM, die bereits nächste Woche in Prag beginnt. Aber es gibt Umstände, die diese Ruhe und Harmonie stören. Da ist im Februar diese vorzeitige Vertragsverlängerung mit Patrick Fischer bis und mit Heim-WM 2026. Sie beschert dem Vorsitzenden immer wieder Kritik.

Und nun gibt es auch noch den «Fall Bichsel»: Lian Bichsel war soeben im Playoff-Final in Schweden überragend und wird die Saison in der AHL beenden. Aber der mit Abstand beste junge Schweizer Verteidiger ist bis und mit der WM 2026 – also auch fürs olympische Turnier 2026 – aus dem Nationalteam ausgeschlossen worden.

Weil der Musterprofi, der vielleicht einmal der nächste Roman Josi wird, zweimal einem Aufgebot für die U20-WM aus gut nachvollziehbaren Gründen nicht Folge geleistet hat.

Die in unserem Hockey beispiellos harsche Sanktion ist ausgerechnet während der WM-Vorbereitungsphase vollzogen und verkündet worden. Selten hat eine sportliche Verbands-Entscheidung die Hockey-Öffentlichkeit so aufgebracht. Wird Stefan Schärer offiziell zum «Fall Bichsel» befragt, steht er hinter dem Entscheid von Sportdirektor Lars Weibel und Nationaltrainer Patrick Fischer.

Logisch: Er will doch vor der WM Ruhe haben, und bittet höflich darum, die Angelegenheit ruhen zu lassen:

«Wir wollen den gesamten Fall nun nicht nochmals von neu aufrollen und auch die Polemik ist nicht angebracht. Zudem sind die zahlreichen persönlichen Gespräche zwischen den Direktbeteiligten intern und vertraulich. Somit wird es vom Verband keine weitere Stellung zum ‹Fall Bichsel› geben.»

Wenn es je eine Hockey-Suppe gegeben hat, die nicht so heiss ausgelöffelt wird, wie sie gekocht worden ist, dann im «Fall Bichsel». Stefan Schärer ist nämlich von seiner Handball-Vergangenheit eingeholt worden. André «Ändu» Bichsel ist der Vater von Lian Bichsel. Er hat im Handball-Nationalteam mit und im Klub gegen Stefan Schärer gespielt.

Und nun soll Stefan Schärer durch alle Böden hindurch den Nati-Ausschluss gegen den Sohn seines ehemaligen Handball-Kumpels gnadenlos aufrechterhalten?

Come on! Er wird es nicht tun.

Bei der kommenden WM in Prag ist Lian Bichsel nicht dabei. Aber im Sommer, wenn sich auch die Hockey-Öffentlichkeit dem Fussball und den Olympischen Spielen zuwenden wird, kommt es zur Revision im «Fall Bichsel».

Sie wird mit einer Begnadigung enden.

So oder so. Durch das diplomatische Geschick von Stefan Schärer, wenn Lars Weibel und Patrick Fischer nach der WM weiterhin im Amt bleiben. Im Falle eines Wechsels ist die Sanktion sowieso vom Tisch. Offiziell wird dieses «Revisionsverfahren» von Stefan Schärer natürlich bestritten. Er will ja – wir wissen es – vor der WM Ruhe und Harmonie. Hingegen bestätigen die verlässlichsten der verlässlichen Gewährsleute, dass es diese Revision geben wird. Als Resultat der – wir zitieren – «zahlreichen persönlichen Gespräche zwischen den Direktbeteiligten intern und vertraulich».

Im Falle eines Falles hat Stefan Schärer gegenüber Kritikern eine gute Ausrede: Er war nicht im Land, als der Entscheid im «Fall Bichsel» von der Verbands-Sportabteilung gefällt und verkündet worden ist. Sondern auf einer längeren Reise in Südamerika, die er vor seinem präsidialen Amtsantritt aufgegleist hatte.

Die besten Titelturniere haben die Schweizer in den vergangenen 30 Jahren erst nach heftigen Turbulenzen gespielt.

Das Streben nach Ruhe ehrt den neuen Verbandspräsidenten. Dabei ist sie gerade im Hinblick auf eine WM gar nicht erforderlich. Die besten Titelturniere haben die Schweizer in den vergangenen 30 Jahren erst nach heftigen Turbulenzen gespielt: 1992 kommen sie nach einem missglückten Olympiaturnier und Nationaltrainerwechsel bei der WM in Prag nach einem Sieg über Deutschland in den Halbfinal. Vor der Saison wird Nationaltrainer Simon Schenk gefeuert (was stark kritisiert wird). Aber sein Nachfolger Ralph Krueger dirigiert die Schweizer bei der Heim-WM 1998 zum ersten Sieg in der Geschichte gegen Russland und in den Halbfinal. Nach einem 11. Rang – hinter Frankreich, Norwegen und Lettland!

Bei der WM 2012 sieht sich Nationaltrainer Sean Simpson heftiger Kritik und Rücktrittsforderungen ausgesetzt und führt die Schweizer ein Jahr später in den WM-Final 2013. Und nach dem missglückten Olympiaturnier von 2018 (10. Rang) wackelt Patrick Fischers Position bedenklich und nur ein paar Wochen später stürmt er in den WM-Final von 2018. Da kann ein bisschen Polemik im «Fall Bichsel» eher hilfreich sein und wahrlich nicht schaden.

Stefan Schärer macht gerade die Erfahrung, dass es im Hockey auch neben dem Spielfeld eher noch dynamischer und rauer zu und hergeht als im Handball. Aber das Eishockey kennt einen schönen Brauch: Nach einem auch noch so harten Spiel reichen sich alle Kontrahenten die Hand («Handshake»).

Die versöhnliche Geste hilft auch am Verhandlungstisch.

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