BEI EINER VERURTEILUNG DROHEN PUNKTABZüGE ODER GAR DER ZWANGSABSTIEG: IN ENGLAND BEGINNT DER JAHRHUNDERTPROZESS GEGEN MANCHESTER CITY

Die Eröffnung des Verfahrens zwischen der Premier League und Manchester City zog sich zuletzt so sehr in die Länge, dass der Eindruck entstehen konnte, es würde gar nicht mehr beginnen. Bei jeder Gelegenheit wurde Richard Masters, der Geschäftsführer der Liga, nach dem aktuellen Stand gefragt. Masters antwortete ausweichend, erst bei der Ligaeröffnung im August drückte er sich etwas präziser aus.

Es sei «jetzt an der Zeit», dass der Fall gelöst werde, fand auch er. An diesem Montag gehen die Anhörungen vor einer unabhängigen Kommission nun tatsächlich los. Sie finden unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, nicht einmal der Ort ist bekannt. In England wird der Rechtsstreit als Jahrhundertprozess im Fussball angesehen. Es sei schwer, dessen Ernst und Ausmass zu überschätzen, schrieb die BBC. Es geht im Prinzip sowohl um die Glaubwürdigkeit des Klubs als auch die Autorität der Liga.

Die Premier League, die als Dachverband den englischen Elitespielbetrieb regelt, hat im Februar 2023 – nach zähen vierjährigen Ermittlungen – den Manchester City Football Club angeklagt. Die Vorwürfe: gravierende Finanztricksereien und unzureichende Kooperation in 115 (!) Fällen.

Diese unterteilen sich in fünf Kategorien: 50 Verstösse gegen die Bereitstellung korrekter Informationen über die Finanzlage des Klubs; 24 Verstösse gegen die detaillierte Offenlegung von Spieler- und Trainergehältern; 5 Verstösse gegen die Einhaltung der Financial-Fairplay-Regularien der Uefa, zu denen jedes Mitglied der Premier League verpflichtet ist; 6 Verstösse gegen die Rentabilitäts- und Nachhaltigkeitsregeln der Premier League sowie 30 Verstösse gegen die verbindlich festgeschriebene Unterstützung der Ermittlungen nach bestem Wissen und Gewissen.

14 Saisons sind betroffen

Der Zeitraum der Anschuldigungen beläuft sich auf alle Fussballsaisons von 2009 bis 2023, also fast die komplette Epoche des Vereins unter dem Hauptanteilseigner Scheich Mansour bin Zayed Al Nahyan. Der 53-Jährige ist Mitglied der Herrscherfamilie des Emirats Abu Dhabi und Bruder des Staatsoberhauptes der Vereinigten Arabischen Emirate.

Mansour hatte Manchester City im September 2008 für eine Viertelmilliarde Euro gekauft und wurde damit der erste Grossfinancier eines Premier-League-Klubs von der Arabischen Halbinsel. Nach seinem Einstieg flossen schwindelerregende Summen – wohl auch mit dem Ziel, das Ansehen des repressiven Regimes durch Erfolge im Fussball zu erhöhen, was Kritiker als «Sportswashing» brandmarken.

City gab unter Mansour geschätzte 2,75 Milliarden Euro für neue Spieler aus und verbuchte ein Transferminus von rund 1,5 Milliarden Euro. Kaum ein anderer Klub steckte in den vergangenen 16 Jahren mehr Geld in die eigene Profimannschaft. Mansours Investitionen haben sich sportlich ausgezahlt: Manchester City gewann unter dem Trainer Pep Guardiola zuletzt vier Meisterschaften in Serie und 2023 erstmals die Champions League.

Damit hat der Klub quasi alles gewonnen – und könnte nun gewissermassen bald vieles wieder verlieren. Denn bei einer Verurteilung in der laufenden Causa drohen City drastische Strafen. Sie reichen von Punktabzügen, die zum Abstieg führen können, bis hin zum Ligaausschluss. Citys früherer Finanzberater Stefan Borson meinte nach Bekanntwerden der Anschuldigungen im Radiosender Talksport, deren schieres Ausmass müsste, sofern sie bewiesen würden, «mindestens zum Abstieg» des Vereins führen.

Das Verfahren der Premier League scheint auf den einst von der Uefa erhobenen Anklagepunkten gegen City aufzubauen. Europas Fussball-Union beanstandete 2019, dass City zur Untergrabung des Regelwerks Financial Fairplay (FFP), das, vereinfacht gesagt, nur begrenzte Verluste der Klubs und Zuschüsse der Besitzer gestattet, zwischen 2012 und 2016 falsche Einkommensangaben gemacht haben soll.

Finanzdoping über Sponsoringerlöse

Angeblich wurden Zahlungen von Mansour als künstlich hochgerechnete Sponsorenerlöse getarnt. Ein Jahr später wurde City von einer unabhängigen Finanzkommission der Uefa für zwei Jahre von allen Europapokalwettbewerben ausgeschlossen. Ein Erdrutschurteil, das der Internationale Sportgerichtshof (TAS) allerdings unter fragwürdigen Umständen kurz danach weitgehend wieder kassierte – mit dem Verweis auf Verjährung und eine nicht ausreichende Beweislage.

Im Gegensatz zu den Uefa-Regeln kennt die Premier League keine Verjährung. Als Indizien dürften, damals wie heute, vor allem mutmasslich gehackte Dateien der Enthüllungsplattform Fo­otball Leaks dienen, hinter denen der Portugiese Rui Pinto steckt. Seit 2016 hat Pinto dem Magazin «Spiegel» mehr als 70 Millionen Dateien europäischer Topklubs zugespielt, die mit dem Recherchenetzwerk European Investigative Collaborations ausgewertet wurden. Manche davon sind im Internet frei zugänglich. Die auf Pintos Enthüllungen basierenden Artikel legten nahe, dass City die Wettbewerbsregeln der nationalen und internationalen Verbände wahrscheinlich zu umgehen versuchte.

Manchester City bestreitet jegliches Fehlverhalten und bezeichnete die Vorwürfe von Beginn an als «organisierten und eindeutigen» Versuch der Rufschädigung. Grundsätzlich äussert sich City nicht zu den Football-Leaks-Unterlagen und sieht sie als gestohlen, illegal gehackt und aus dem Kontext gerissen an. Zudem hält der Verein die Finanzregeln – nicht ganz zu Unrecht – für eine Massnahme des Fussball-Establishments, um neureiche, ambitionierte Klubs kleinzuhalten.

Guardiola gibt sich kämpferisch

In der Rechtssache gibt sich City immerzu siegessicher. Als die Premier League ihre Anklage veröffentlichte, reagierte der Klub mit einem knappen Statement. Man sei «überrascht», begrüsse aber die unabhängige Überprüfung, um den Fall «ein für alle Mal» zu beenden. Zur Unterstützung der eigenen Position kündigte der Verein «umfangreiche unwiderlegbare Beweise» an.

Vor Citys Ligaspiel am Samstag gegen den FC Brentford (2:1) betonte Guardiola, jeder sei unschuldig, bis er verurteilt werde. Aus seiner Sicht wollten alle Klubs der Premier League, dass City mit Sanktionen belegt werde. Eine NZZ-Anfrage zu den Vorwürfen und dem zeitlichen Ablauf des Verfahrens liess Manchester City unbeantwortet; die Premier League teilte mit, sich über die bisher getätigten öffentlichen Erklärungen hinaus nicht weiter äussern zu können.

Für die Anhörungen sind dem Vernehmen nach zehn Wochen angesetzt, ein Urteil der unabhängigen Kommission wird zu Beginn des nächsten Jahres erwartet. Allerdings können beide Seiten, die Premier League und Manchester City, in Berufung gehen, der Fall würde dann von einer neu besetzten Kommission bewertet werden. Bis das Verfahren abgeschlossen ist, könnte es also erneut dauern.

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