GOLD FüR ANGELICA MOSER, GOLD FüR TIMOTHé MUMENTHALER – DIE SCHWEIZER LEICHTATHLETIK ERLEBT AN DEN EM IN ROM EINE «NOTTE MAGICA»

Timothé Mumenthaler tritt aus dem Tunnel des Stadio Olimpico. Die Lichter sind abgeschaltet, nur ein einzelner Scheinwerfer konzentriert sich auf den Schweizer Sprinter. Der imitiert mit Gesten einen Telefonanruf und betritt dann die Tartanbahn. Die Posen sitzen, wie bei den Aushängeschildern der Sprinter. Wen ruft Mumenthaler hier an? Und wer ist dieser Timothé Mumenthaler?

Dann der Startschuss, zum zweiten Mal nach einem Fehlstart eines Konkurrenten. Es hat Mumenthalers Nebenmann getroffen, der Schweizer ist ohne direkten Gegner, sieht keinen der Konkurrenten. Vor dem Rennen hat ihm der Trainer ein Video einer Gazelle gezeigt, die von Geparden durch die Savanne gejagt wird. Mumenthaler sagt: «Ich habe mir vorgestellt, ich sei eine fliehende Gazelle.»

Dieses Bild hat er im Kopf, als er auf der Aussenbahn durch die Kurve stürmt. Er führt nach 100 Metern, er führt nach 150 Metern, die Konkurrenz holt nicht auf. Mumenthaler stürzt sich ins Ziel. Die Uhr bleibt bei 20,28 Sekunden stehen. Wer ist dieser Timothé Mumenthaler? Er ist jetzt der Europameister über 200 Meter – eine Sensation.

Vor den Europameisterschaften in Rom hatte niemand den 21-jährigen Genfer auf der Rechnung gehabt, Mumenthaler bestritt den ersten Grossanlass bei den Aktiven. Selbst die Finalqualifikation des Athleten von Stade Genève war eine Überraschung. Mumenthaler sagt: «Das Ziel im Final war es, mit aller Kraft eine Medaille zu erreichen. Dass es gleich Gold wird, davon habe ich nicht einmal geträumt.» Mit William Reais, dem 25-jährigen Bündner, gewann ein zweiter Schweizer in diesem Rennen die Bronzemedaille.

Im Nachwuchs kopiert er den grossen Usain Bolt

Westschweizer Funktionäre sagten vor dem Final, man solle auf diesen Mumenthaler achten. Wenn der einen «raushaue», dann sei alles möglich. Der junge Sprinter gilt in der Szene als grosses Talent, aber auch als Nonkonformist, der bisweilen schwierig zu führen ist. Mumenthaler sagt dazu: «Es gab auch harte Zeiten in meiner Karriere.»

Schon in den Nachwuchskategorien machte er mit Posen auf sich aufmerksam, die man sonst nur auf der grossen Bühne sieht. Das kam nicht überall gut an. An den U-23-EM 2023 kopierte er vor dem Final den Bogenschuss des grossen Usain Bolt – und gewann Bronze. Und wen hat er nun in Rom symbolisch angerufen beim Einlauf ins Stadion?

Mumenthaler sagt, für ihn sei der Sport «Business», der Anruf sei «ein Business-Call» gewesen, ein Geschäftsanruf. Er habe auf der Bahn einen Job gehabt. «Job erledigt, oder?», findet Mumenthaler und lacht. Er sei ein junger Mann, der es liebe, auf der grossen Bühne anzutreten, der für die speziellen Momente lebe. «Ich will Menschen inspirieren», sagt er. Der Mann scheint grosse Ziele zu haben.

Trainiert wird er in Genf vom ehemaligen Sprinter Kevin Widmer, daneben absolviert er ein Ingenieurstudium an der EPFL in Lausanne. Sein Trainer Widmer hielt fast 22 Jahre lang den Schweizer Rekord über 200 Meter, ehe Alex Wilson die Bestmarke 2017 unterbot. Mumenthaler sagt, Widmer wecke in ihm eine «bestialische Seite». Diese mache ihn schnell.

Raus aus dem Panikmodus, rein in den Chefmodus

Mumenthaler und Reais gewannen in Rom die Medaillen sechs und sieben für Swiss Athletics. Noch nie hat die Schweiz an Europameisterschaften so viele Podestplätze erreicht. Vor zwei Jahren in München waren es sechs. Das Stadio Olimpico in Rom hat viele Sternstunden gesehen, zum Beispiel den Final der Fussball-WM 1990. Im Lied zu diesem Turnier besingen Gianna Nannini und Edoardo Bennato magische Nächte unter einem italienischen Sommerhimmel. Eine solche «notte magica» erlebte die Schweizer Leichtathletik am Montagabend – nicht nur dank Mumenthaler und Reais.

Der Auftakt zu dieser magischen Nacht gehörte Angelica Moser, auch die Stabhochspringerin gewann die Goldmedaille. Ihr Wettkampf wäre allerdings beinahe vorbei gewesen, ehe er richtig begonnen hatte. Moser riss auf einer Höhe von 4,43 Meter zweimal, drohte zu scheitern. Der Trainer Adrian Rothenbühler rief ihr zu: «Komm aus dem Panikmodus raus. Schalte in den Chefmodus!»

Moser sagt, solche Drucksituationen gebe es in ihrer Sportart. Sie habe versucht, den dritten Sprung wie jeden anderen zu nehmen. «Für den Trainer und mein Umfeld kostete dieser Wettkampf mehr Nerven als für mich.» Vor dem Final war Moser leicht erkältet gewesen. Der Start in den Wettkampf sei ihr schwergefallen, sagt sie: «Dass ich auf der Anfangshöhe drei Sprünge brauchte, war ein Weckruf.»

Schweizer Rekord im ersten Versuch

Die Ansage des Coachs Rothenbühler zeigte Wirkung, Moser schaltete in den «Chefmodus». Schliesslich übersprang sie im ersten Versuch 4,78 Meter und egalisierte damit den Schweizer Rekord ihrer früheren Trainerin Nicole Büchler. Diese Höhe war gleichbedeutend mit dem EM-Titel. Unter Gold scheint es bei Moser so oder so nicht zu gehen. Es ist bereits ihre siebente Medaille an einem Grossanlass, wenn man die Nachwuchskategorien dazurechnet. Moser gewann immer Gold, zuletzt 2021 an den Hallen-EM.

Die Goldmedaille von Rom bedeutet den Höhepunkt von Mosers Aufschwung in den letzten anderthalb Jahren. Im Mai hatte sie in Marrakesch erstmals in der Diamond League gewonnen. Ein Grund für die Hausse ist die Zusammenarbeit mit dem Trainer Rothenbühler, einem der renommiertesten Coachs der Schweizer Leichtathletik. Rothenbühler sagte vergangene Woche zur NZZ über den Beginn der Zusammenarbeit im Frühjahr 2023: «Ich habe eine destabilisierte Athletin angetroffen.»

Moser hatte zu diesem Zeitpunkt schwierige Jahre hinter sich. 2020 liess sie sich wegen einer Essstörung therapieren und sprach danach offen darüber. Sie sagte, sie habe sich Süssigkeiten verboten, weil im Stabhochsprung das Gewicht einer der entscheidenden Faktoren sei. Nach Wettkämpfen habe sie sich zur Belohnung heimlich mit Schokolade vollgestopft. Heute sagt sie: «Adrian Rothenbühler und ich gehen unverkrampft mit dem Thema um. Das Essen nimmt bei mir nicht mehr so viel Raum ein. Ich brauche es nicht mehr als Belohnung.»

2021, unmittelbar nach den Olympischen Spielen in Tokio, stürzte Moser im Training fürchterlich, erlitt unter anderem einen Pneumothorax und fiel lange aus. Hinzu kam der Abgang der Trainerin Büchler, die sich aus privaten Gründen zurückgezogen hatte. Die Zukunft war ungewiss, die Unsicherheit nagte an Moser. Rothenbühler schaffte es innert kurzer Zeit, die Athletin zu stabilisieren.

Diese Arbeit fruchtete nun in Rom. Moser sagt, der Titel verleihe ihr Selbstvertrauen, sie fühle sich befreit. Sie will in diesem Jahr aber höher hinaus. Sie spürt, dass sie 4,80 Meter in den Beinen hat. Das sei das Ziel. Moser sagt: «In diesem Jahr steht ja noch etwas an. Ich freue mich jetzt schon auf Olympia.»

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