PUTINS PYROMANEN: SIE ZüNDEN HäUSER AN, VERGIFTEN MENSCHEN UND FüHREN KRIEG GEGEN DEN WESTEN. GEHEIMDIENSTE WARNEN VOR RUSSISCHEN SABOTAGEAKTEN

Am 26. Juli, dem Tag der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Paris, verübten Unbekannte einen Sabotageangriff auf das französische Bahnnetz. Millionen von Reisenden blieben auf der Strecke. Geheimdienstexperten vermuten, dass Russland dahinterstecken könnte. «Die These ist sicherlich sehr glaubwürdig», sagte Javed Ali, Experte für Terrorismusbekämpfung und ehemaliges Mitglied des US National Intelligence Council, in der Nachrichtensendung «PBS Newshour».

Obwohl es keine eindeutigen Beweise gibt, spricht vieles dafür. In den letzten Monaten hat Frankreich die Ukraine aggressiver unterstützt, und die russische Regierung hegt gegen das Internationale Olympische Komitee einen besonderen Groll, weil es ihre Athleten von den Spielen ausgeschlossen hat.

Darüber hinaus bringen europäische und amerikanische Geheimdienstmitarbeiter eine Reihe von Sabotageakten in ganz Europa mit dem russischen Geheimdienst GRU in Verbindung. Seit Anfang Jahr gab es in mehr als einem halben Dutzend Ländern Fälle von Brandstiftung und andere Anschläge, darunter in der Tschechischen Republik, Estland, Lettland, Deutschland, Polen, Schweden und im Vereinigten Königreich.

Im März 2024 wurde ein Lagerhaus in Leyton, East London, angezündet, das mit der Ukraine in Verbindung gebracht wurde. Die britische Polizei verhaftete vier Personen, die unter anderem wegen Planung eines Brandanschlags und Unterstützung des russischen Geheimdienstes angeklagt wurden. Im darauffolgenden Monat brannte in Südwales eine Anlage des britischen Rüstungs-, Informationssicherheits- und Luftfahrtkonzerns BAE – ein Anschlag, der dem Muster anderer folgt.

Ebenfalls im April verhafteten deutsche Behörden zwei deutsch-russische Doppelbürger. Sie stehen im Verdacht, Anschläge auf einen bayrischen Militärstützpunkt geplant und Kontakte zum Geheimdienst gepflegt zu haben. Und im Mai verhaftete Polen drei Männer, die im Auftrag von Russland Brände gelegt und andere Sabotageakte verübt haben sollen.

Noch verblüffender aber war die Nachricht von CNN, dass amerikanische und deutsche Geheimdienste einen Mordanschlag von russischen Agenten auf Armin Papperger, den Chef des führenden deutschen Waffenherstellers Rheinmetall, vereitelt hatten. Einen westlichen Staatsbürger auf westlichem Boden zu töten, wäre eine dramatische Abkehr von früheren Taktiken.

Damit hat Wladimir Putin ein weiteres Kapitel der sogenannten Grauzonen-Operationen aufgeschlagen. Darauf ist der Westen völlig unvorbereitet. Bislang haben die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten jeden Angriff einzeln abgewehrt. Und obwohl einige Operationen gestört wurden, konnten die Nato-Staaten bis jetzt keine gemeinsame Gegenstrategie entwickeln. In Zeiten von hart umkämpften Präsidentschaftswahlen in den USA und politischer Unsicherheit in Europa können solche Angriffe zu einer destabilisierenden Bedrohung werden.

Der bolschewistische Untergrund

Russlands Sabotage ist nicht neu. Im Juni schrieb Philip H. J. Davies, ein führender britischer Geheimdienstwissenschafter, dass «der Westen drei Jahrzehnte Zeit hatte, die Bedrohung durch nationalstaatliche Sabotage kollektiv und institutionell zu vergessen». Tatsächlich haben die Sowjets sie schon vor dem Zweiten Weltkrieg perfektioniert.

Nach der russischen Revolution von 1917 sahen die Bolschewiki in der Sabotage ein wirksames Mittel, den Westen anzugreifen. Bei ihrer Gründung befahl die Kommunistische Internationale (Komintern) – die weltweite Organisation kommunistischer Parteien – allen Mitgliedern, in ihren Heimatländern Waffen- und Munitionseinrichtungen zu infiltrieren. Lenin zwang sie schliesslich, auch militante Zellen im Untergrund zu unterstützen. Diese wurden bald zu einem so grossen Problem, dass die britische Regierung sogar die formelle Anerkennung der Sowjetunion an die Bedingung knüpfte, ihre kommunistischen Aktivitäten zu beenden. Während des Zweiten Weltkriegs löste Stalin schliesslich die Komintern auf und setzte den Operationen ein abruptes Ende.

Zu Beginn des Kalten Krieges entwickelten die beiden sowjetischen Spionageabteilungen, der KGB und der militärische Geheimdienst GRU, neue Sabotagepläne. In den 1950er Jahren begannen sie, in ganz Westeuropa und auch in den Vereinigten Staaten Sprengstoff- und Waffendepots anzulegen, die nur in einer sogenannten «Sonderperiode» eingesetzt werden sollten – einem totalen Krieg mit dem Westen.

Dass die Sowjets so lange auf Sabotageakte verzichteten, hat nichts mit den westlichen Abschreckungen zu tun. Zu Beginn des Kalten Krieges verfügten ihre Geheimdienste über reichlich Ressourcen. Und nach dem Zweiten Weltkrieg rekrutierte der Militärgeheimdienst viele Agenten mit langjähriger Sabotage-Erfahrung.

Iwan Schtschelokow zum Beispiel, ein junger, aber erprobter Kampfpilot, der während des Spanischen Bürgerkriegs Brücken gesprengt hatte. Er und seine Frau Nadia wurden als Attentäter nach Westeuropa entsandt, deren Hauptaufgabe die «Beseitigung von Verrätern» war, unter ihnen Kriegsgefangene, die für die Deutschen gekämpft hatten. «Nach einem Jahr waren von den fünf Paaren dieser Missionen nur noch Nadia und ich am Leben», schrieb er später.

Anfang der 1950er Jahre bekam Naum Eitingon einen Auftrag vom Geheimdienst. Er, der Architekt von Leo Trotzkis Ermordung 1940 in Mexiko, sollte eine Sondereinsatzbrigade bilden, um US-Militärstützpunkte in Europa zu sprengen. Doch diese Pläne wurden aus innenpolitischen Gründen nie aktiviert.

Nach Stalins Tod kam es in der sowjetischen Elite, von der viele Stalins Säuberungen nur knapp überlebt hatten, zu einer Gegenreaktion gegen die allmächtigen Sicherheits- und Nachrichtendienste. Unter Nikita Chruschtschow versuchte die Führung, sie unter die Kontrolle der Kommunistischen Partei zu bringen. Die Geheimdienste entledigten sich deshalb ihrer abenteuerlichsten Kräfte, unter ihnen Eitingon, der elf Jahre in den Gulag geschickt wurde.

Waffendepot in der Schweiz

Als Putin Ende der 1990er Jahre an die Macht kam, übernahm er einen Grossteil der weitgehend intakten Geheimdienst-Infrastruktur. Im Oktober 1999, nur zwei Monate nachdem er der Nachfolger von Ministerpräsident Boris Jelzin geworden war, fand im US-Repräsentantenhaus eine Anhörung zur Bedrohung durch russische Sabotagepläne statt.

Dabei betonte Curt Weldon, Vorsitzender des Unterausschusses für militärische Forschung und Entwicklung, dass Russland nie offengelegt habe, in welchen westlichen Ländern Waffen und Sprengstoffe versteckt worden seien. Später wurden in der Schweiz und in Belgien Depots entdeckt, und das FBI untersuchte, ob es ähnliche Waffenlager in den USA gab. Die Ermittlungen wurden jedoch von den Anschlägen vom 11. September 2001 überschattet. Von da an wurde Russland als Verbündeter im Krieg gegen den Terror gesehen.

In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat Putin nicht nur seine Macht ausgeweitet, sondern auch die Auslandaktionen wiederbelebt: 2004 ermordeten russische Agenten den ehemaligen tschetschenischen Vizepräsidenten Selimchan Jandarbijew in Katar. Zu den Attentaten kamen bald auch eine Reihe von Giftanschlägen auf Exilanten und Oppositionelle.

Als Russland 2014 in die Ostukraine einmarschierte, wurden in der Tschechischen Republik mehrere Munitionslager bombardiert und schliesslich zerstört; das Nato-Land hatte Waffen an die Ukraine geliefert.

Nachdem sich Russland 2016 in die US-Präsidentschaftswahlen eingemischt hatte, begann der Westen die verdeckten Operationen erstmals öffentlich anzuprangern. Ohne Erfolg. Putins Spionageagenturen rekrutierten eine neue Generation von Agenten, die Härte, Loyalität und Abenteuerlust in der Spezialeinheit Speznas kombinierten.

Moskaus Invasion in die Ukraine hat sich schnell zu einem Spionagekrieg gegen den Westen entwickelt, und Russlands Geheim- und Sicherheitsdienste haben sich neu formiert. Sie begannen auch, lokale Partner in europäischen Ländern zu rekrutieren, meist über kriminelle Netzwerke und manchmal auch über Bürger aus Weissrussland und der Ukraine. Anfang 2024 war Russland bereit für die Anschläge, die es dieses Jahr verübt hat.

Inzwischen schlagen die USA und die Nato Alarm. Der Kreml lässt die Europäer die Kosten des Krieges direkter spüren, in der Hoffnung, die Unterstützung für die Ukraine schwinde. Ausserdem könnte ein grösserer Angriff auf westliche Infrastrukturen weitreichende, destabilisierende Auswirkungen haben.

Diese Strategie hat den Westen in eine schwierige Lage gebracht. Gegenmassnahmen kann er nur begrenzt ergreifen. Zum einen, weil die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten sich nicht offiziell im Krieg mit Russland befinden. Zum anderen müssten die Spionageabwehrdienste so drastische Massnahmen ergreifen, wie sie nur in totalitären Regimen durchführbar sind. Was der Westen braucht, ist eine kollektive Geheimdienststrategie – bevor ein grossangelegter Angriff es weitaus schwieriger macht zu reagieren.

Dieser Artikel erschien ursprünglich im US-Politmagazin «Foreign Affairs». Aus dem Englischen übersetzt von Carole Koch.

2024-09-07T20:14:26Z dg43tfdfdgfd